Mein Name sei Gantenbein by Frisch Max
Autor:Frisch, Max
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2011-02-25T16:00:00+00:00
Das Spiel mit der Blindenbrille und mit dem schwarzen Stöcklein am Randstein und mit der Armbinde, die jedesmal, wenn Gantenbein ausgeht, sich gerade am Ärmel eines anderen Anzugs befindet, so daß er nochmals zurückgehen muß, ist nachgerade langweilig, finde ich auch; ich würde es verstehen, wenn Gantenbein plötzlich seine Rolle aufgäbe, und ich frage mich insbesondere, wie Lila es aufnehmen würde, wenn Gantenbein eines Abends gestände, daß er sieht.
Die Versuchung wird immer größer.
Wozu die Verstellerei?
Ich sitze am Kamin, Mitternacht, ein Glas in der Hand, Eis im Glas, so daß es klingelt, wenn ich es schwenke. Vielleicht habe ich schon zuviel getrunken. Unsere Gäste sind endlich gegangen; es ist wieder einmal mühsam gewesen, Gantenbein zu spielen und den Leuten nicht zu sagen, was man sieht. Eben habe ich ein Scheit in den Kamin gelegt, während Lila die Zeitung liest, und ich schaue zu, wie das Scheit im Kamin langsam zu rauchen beginnt über der Aschenglut dieses Abends: plötzlich springt eine erste Flamme an, eine kleine flüchtige bläuliche wilde Laune, die sich alsbald verliert, aber nach einer rauchenden Weile wieder da ist, jetzt eine prasselnde Flamme lichterloh. Sonst geschieht nichts. Lila hat unsern Gästen wieder einmal die Anekdote erzählt, erfolgreich wie meistens, vom blinden Gantenbein in ihrer Garderobe. Die Gäste, wie gesagt, sind weg; auch wir werden bald schlafen gehen, scheint es. Mein Glas in der Hand, Eis im Glas, so daß es leise lustig klingelt, wenn ich's schwenke, sehe ich unser Glück. Ob Lila wirklich noch an meine Blindnis glaubt? Ich sehe ihre Beine, das linke über das rechte geschlagen, ihr Knie, anschließend ihren gespannten Rock, ferner sehe ich ihre beiden Hände, womit sie die offene Zeitung hält: Schlagzeile mit Mord.
»Du«, fragt sie, »hast du das gelesen –?«
Sie denkt sich nichts dabei, wenn sie solche Fragen stellt. Sie tut das öfter, ohne daß sie Gantenbein auf die Probe stellen will.
»Ja«, sage ich, »– habe ich gelesen.«
Pause.
»Nein«, sagt sie, »wie ist das möglich!«
Sie meint den Mord.
»Schauerlich!« findet sie.
Ich trinke, bis nur noch Eis im Glas ist, und warte, das Glas in der Hand, gespannt, ob Lila nicht plötzlich begreift, was ich eben gesagt habe; ich warte aber vergeblich, und da nichts erfolgt, wiederhole ich:
»Ja – habe ich gelesen.«
Sie hört es einfach nicht.
»Du«, fragt sie, »ist da noch Whisky?«
Es ist.
»Danke«, sagt sie später, »danke.«
Schweigen.
»Lila«, sage ich, »ich habe dir etwas gesagt.«
»Entschuldige!« sagt sie.
Endlich legt sie die Zeitung nieder, doch ihr Gesicht ist überhaupt nicht verwundert, sehe ich, sie greift bloß nach ihrem Whisky, um zu hören, um zu fragen:
»Was hast du gesagt?«
Ich zögere.
»Ich habe gesagt«, lächle ich langsam und nehme nochmals mein Glas an den Mund, ein fades Schmelzwasser, so daß mir das Lächeln vergeht: »– ich habe gesagt, daß ich's gelesen habe.«
»Findest du's nicht schauerlich?«
Sie meint immer den Mord.
»Ja –«
Ich sehe, Gantenbein brauchte jetzt bloß zu schweigen und zu rauchen, und alles bliebe beim alten, aber vielleicht packt ihn der Koller – ich könnte es mir vorstellen – ein Koller, der kein gutes Ende nehmen wird, ich weiß es und halte mein leeres Whisky-Glas mit beiden Händen, damit Gantenbein es nicht gegen die Wand schmettert.
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